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Andreas Unger: „Es ist natürlich, zuweilen überfordert zu sein“

Krieg, Klima, Pandemie: Wir leben in einem ununterbrochenen Krisenmodus. Konsument:innen können ihr Handy oder das Radio ausschalten, Journalist:innen leben jedoch in einem permanenten Ausnahmezustand. Vor allem wenn sie mit Betroffenen dieser Krisen sprechen. Das erfordert einen sensiblen Umgang in der Berichterstattung und mit sich selbst. Wie das funktioniert, erklärt Sozialjournalist Andreas Unger im Interview. Zum Thema Mental Health sprach er außerdem als Moderator bei unserem Live-Event „MEDIA meets HEALTH“ am 24. Mai.

Andreas, du bezeichnest dich selbst als Sozialjournalist. Was ist das eigentlich?

Andreas Unger: Das heißt für mich, dass ich viel mit Leuten spreche, denen Schlimmes passiert ist. Ich unterhalte mich darüber, was passiert ist und vor allem darüber, was sie daraus machen. Mich interessieren Überlebensweisen. Ich führe viele Gespräche, die ins Persönliche und ans Eingemachte gehen. Für Sportjournalismus war ich außerdem zu langsam und für Wirtschaftsjournalismus kenne ich mich zu wenig mit Zahlen aus. Dafür bin ich gut im Nahbereich mit Menschen.

Der Umgang mit Traumata in der Berichterstattung: Zu diesem Thema gibst du unter anderem Workshops und Seminare. Was vermittelst du dort?

Unger: Alle Journalist:innen kommen irgendwann in brenzlige Situationen. Ziel meiner Workshops ist es, die Hilflosigkeit zu bannen, die man vor Ort empfindet. Es geht darum, darüber nachzudenken, wie wir mit Menschen umgehen, die wir für eine Berichterstattung gewinnen wollen – und zwar, bevor es ernst wird. Außerdem spreche ich darüber, wie wir uns selbst und andere schützen. Wie führen wir Gespräche und wie sieht eine Berichterstattung aus, die am Ende niemandem weh tut und trotzdem wahr und ungeschönt ist?

Wie geht man als Journalist:in mit Personen um, die gerade ein Trauma erlebt haben?

Unger: Diese Menschen sind in einer Extremsituation. Ihre Überforderung resultiert aus einem Kontrollverlust. Das, was passiert ist, ist noch nicht verinnerlicht. Man muss vorsichtig mit den Leuten sprechen, sich in Zurückhaltung üben. Keine Interviews führen, sondern Gespräche miteinander. Ich gehe ganz offen auf die Leute zu und stelle mich als Journalist vor. Dann fange ich mit einer Einladung ins Gespräch an: Bitte erzählen Sie. Ich bin dazu da, alles aufzunehmen, was die Person zu sagen hat. Was ich davon veröffentliche, ist eine andere Frage.

Was sind typische Fehler im Umgang mit traumatisierten Menschen?

Unger: Schlecht informiert in ein Gespräch zu gehen oder sich bewusst auf den reinen Emotionsgehalt zu fokussieren, sind typische Fehler. Fragen müssen einem Zweck dienen, aber nicht dem des Clickbaiting. Ich ziele also nicht nur auf Emotionen ab. Außerdem kann es vorkommen, dass Menschen im Schock Erlebnisse noch nicht richtig abgespeichert haben. Im schlimmsten Fall werden veröffentlichte spontane subjektive Erinnerungen, die objektiv aber falsch sind, vor Gericht gegen die Zeug:innen verwendet.

Es geht am Ende nicht nur darum, was die Tat aus den Leuten gemacht hat, sondern darum, was die Leute aus der Tat gemacht haben.

Andreas Unger

Wie verarbeitet man diese Infos am Ende in einem Artikel?

Unger: Neben der Empathie muss ein kaltes Verstehen der Zusammenhänge da sein. Ich muss auch der Gegenseite zuhören. Zum Beispiel versuche ich auch mit dem oder der Täter:in ins Gespräch zu kommen, nicht nur mit den Geschädigten. Mit einem reinen Rührstück wird man den Protagonist:innen nicht gerecht und nur kalt zu bleiben, verletzt sie. Es geht am Ende nicht nur darum, was die Tat aus den Leuten gemacht hat, sondern darum, was die Leute aus der Tat gemacht haben. Meine Texte sind dabei nie neutral oder objektiv. Sie sind eine von mehreren möglichen Annäherungen an die Wirklichkeit – meine Version.

Wie schaffe ich es als Journalist:in, mit solchen belastenden Dingen umzugehen?

Unger: Zunächst mache ich mir klar, dass eine Situation hart werden kann. Dadurch werde ich nicht zu sehr überrascht. Dann sind ganz basale Dinge wichtig. Zum Beispiel decke ich mich bei Einsätzen in Krisengebieten mit warmer Kleidung ein, mit genug Diesel und einem Zelt. Außerdem frage ich bei Kameramenschen, Fotograf:innen und Fahrer:in immer wieder nach, wie es ihnen geht – auch bei mir selbst. Und ich mache alles, was mir guttut. Ich habe zum Beispiel immer meine Lieblingsmusik dabei. Ich finde es aber auch natürlich, in solchen Situationen zuweilen überfordert zu sein. 

Wieso arbeitest du in diesem Bereich?

Unger: Ich bin als Reporter nicht Helfer, Therapeut oder Seelsorger. Ich weiß nicht, wie das geht. Ich habe das nicht gelernt und will auch nicht so tun, als ob. Ich habe aber auch erlebt, dass gute Berichterstattung den Protagonist:innen ebenso gut tun kann. Sie erzählen etwas und ich schreibe es auf. Dadurch gebe ich häufig schon ganz viel zurück. Erstens das Zeichen dafür, dass etwas sagbar ist. Zweitens gebe ich das Signal, zu verstehen, was sie sagen. Drittens zeige ich, dass es wichtig und relevant ist, was ihnen widerfahren ist – und einschneidend genug, um es ein paar hunderttausend Leuten zu erzählen. Viertens haben sie etwas davon: Es kommen Leserbriefe zurück. Menschen teilen eigene Erfahrungen, ein Gespräch kommt in Gang. Die Protagonist:innen bewegen also etwas durch das, was sie teilen.

Du möchtest mehr zum Thema Mental Health erfahren?

Dann schaue jetzt in unseren Liveblog zu MEDIA meets HEALTH – wir haben das Präsenzevent in den Design Offices München live begleitet.

Wer sich das ganze Interview mit Andreas Unger anhören möchte: Im MEDIENTAGE Podcast hat unser Audio-Experte Lukas Schöne ausführlich mit ihm über seine Arbeit gesprochen.

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