Newsletter erhalten
Prof. Armin Brysch im Interview über XR im Tourismus

Armin Brysch: „XR kann zum Thema ‚Reisen für alle‘ einen wertvollen Beitrag leisten“

Von Ann-Cathrin Schürholz, 02. Mai 2024

Was Medien und Tourismus voneinander lernen können und wie Extended Reality (XR) zu Nachhaltigkeit und Inklusion beitragen kann, erklärt Prof. Armin Brysch von der Hochschule Kempten im Interview. Der Professor für Dienstleistungsorientierte BWL an der Fakultät für Tourismus-Management ist auch Speaker bei unserer halbtägigen Konferenz MEDIA meets TOURISM am 7 Mai. Dort wird er über die Bedeutung und Potenziale immersiver Erlebnisse im Tourismus berichten.

Herr Brysch, wie sehen Sie die Relevanz von XR für die Tourismusbranche?
Armin Brysch: Extended Reality oder kurz XR ist in vielen Industriebereichen seit einigen Jahren fest etabliert – zum Beispiel in der Medizin bei Operationen, in Weiterbildungsprogrammen in der Wirtschaft, beim Onboarding neuer Mitarbeitenden im Unternehmen oder in der Industrie 4.0 bei modernen Produktionsprozessen. Auch in der Tourismusbranche werden die Vorteile und Potenziale von diesen Möglichkeiten gesehen.

Das Besondere ist, wenn wir über XR und Tourismus sprechen, dass der Tourismus einige Eigenschaften aufweist, die die Erlebnisse dieser Branche auszeichnen. Erstens haben wir eine hohe Emotionalität im Reisen. Es ist die schönste Zeit des Jahres, wenn wir jetzt mal von Urlaubsreisen ausgehen. Zweitens haben wir es mit Ortsveränderungen zu tun. Das heißt, wir erleben andere Landschaften oder schöne Naturräume: Urlaubstourismus findet häufig in den Bergen, an Stränden oder auf Inseln statt. Drittens suchen wir im Tourismus häufig eine Gegenwelt zu unserem klassischen Alltag, der vielleicht durch Stress oder hohes Arbeitsvolumen gekennzeichnet ist. Das heißt, wenn man die großen Potenziale von XR im Tourismus verstehen will, muss man diese Besonderheiten der Tourismus- und Freizeitbranche berücksichtigen, um die Chancen zu erkennen. Wenn wir dieses Verständnis zugrunde legen, dann sehen wir, dass die erweiterte Realität in verschiedenen Sparten im Tourismus bereits Einzug gehalten hat. 

Wir befinden uns im Tourismus in einer neuen Phase – auch als Tourismus 2.0 oder Tourismus in der Erlebnisgesellschaft beschrieben.

Prof. Armin Byrsch

Wo zum Beispiel?

Brysch: Im Städtetourismus gibt es ein deutsches Startup, das Zeitreisen in verschiedenen Innenstädten anbietet. Zeitreisen sind ein Menschheitstraum, den wir bisher nicht durchführen können. Aber mit Hilfe dieser Technologie – insbesondere Virtual Reality und dem Einsatz von VR-Brillen – kann ich plötzlich 100 Jahre zurückreisen und mir anschauen, wie beispielsweise die Stadt Köln ausgesehen hat. Ich kann in das Feeling und die Emotionalität der 20er Jahre eintauchen. Oder ich reise in München mehrere 1000 Jahre zurück und schaue mir an, wie das damals war, als der Limes in Bayern noch existierte. Ich kann mir auch Baudenkmäler, die heute nicht mehr existieren, in einem künstlichen Umfeld anschauen und erleben. Diese Möglichkeiten, besondere Erlebnisse zu konsumieren, die heute nicht mehr existieren, sehe ich als eine von mehreren großen Chancen, die mit dem Thema XR im Tourismus verbunden sind.

So definiert Prof. Armin Brysch XR

Touristische Erlebnisse finden nicht mehr nur in der realen Welt einer Landschaft, phy­sischen Sehenswürdigkeit oder unter analogen Rahmenbedingungen statt, sondern werden erweitert um digitale Komponenten oder virtuelle Welten. Kund:innen bzw. Besu­cher:innen tauchen in immersive Erlebnisse einer erweiterten Realität (XR) ein und können eine physisch-digitale Umwelt, wo reale Objekte von der Augmented Reality (AR) überlagert werden, bis hin zu einer vollständig virtuellen, künstlichen Welt mittels Virtual Reality (VR) erleben. (Quelle: Extended Reality (XR) im Tourismus –Erlebnisse durch Augmented Reality und Virtual Reality, Brysch 2023)

Was können die Medien- und Tourismusbranche voneinander lernen? 

Brysch: Eine ganze Menge. Die Medienbranche ist sehr gut darin, nicht nur Informationen zu berichten, sondern Geschichten zu erstellen und zu verkaufen. Und hier sehe ich die Schnittstelle zum Tourismus. Auch Tourismus hat in den Urlaubsregionen viel mit Storytelling zu tun. Ich glaube, das kann ein sehr fruchtbarer Austausch sein. Wir befinden uns im Tourismus in einer neuen Phase – auch als Tourismus 2.0 oder Tourismus in der Erlebnisgesellschaft beschrieben. Wichtig ist, dass nicht mehr nur die Bereitstellung von Infrastrukturen – oder ein bisschen zugespitzt „toten Steinen“ – wichtig ist, sondern, dass Geschichten darüber erzählt werden, dass emotionale Begebenheiten vermittelt werden. Die Medienbranche hat einen bedeutenden Anteil daran. 

Im Hinblick auf Nachhaltigkeit und Verantwortung: Inwiefern können XR-Touren als Alternative zu echten Reisen dienen?

Brysch: Das ist eine spannende Diskussion. Ich werde immer wieder gefragt: Schafft XR das Reisen ab? Nein, natürlich nicht. Es wird immer Realreisen geben. Aber wir können XR im Kontext von Nachhaltigkeit oder umweltverträglichen Konzepten nutzen: Einerseits haben wir einige belastete Ökosysteme und es liegt in unserem Interesse, diese weiter zu schützen. Andererseits gibt es natürlich Menschen, die diese Ökosysteme, nehmen wir ein Riff als Beispiel, erleben wollen.

Es gibt mittlerweile schöne Apps, wo man virtuell durch das Great Barrier Reef tauchen kann. Das halte ich für eine wunderbare Ergänzung. Das heißt nicht, dass jetzt alle Tauchreisen im Great Barrier Reef verloren sind oder verboten werden sollen, aber natürlich haben auch nicht alle Menschen die Möglichkeit, nach Australien zu reisen und dort das Riff selbst zu erleben. Insofern ist es auch ein Stück Teilhabe, wenn ich mit einer Brille einen virtuellen Tauchgang mache und die Schönheit und Vielfalt dieses Ökosystems erlebe und mich vielleicht auch emotional berührt für den weiteren Schutz dieses Ökosystems einsetze. 

Ich werde immer wieder gefragt: Schafft XR das Reisen ab?

Prof. Armin Brysch

Ein anderes Beispiel sind Schutzzonen in Nationalparks oder Marine Protected Areas, also Gebiete, um Tiere und Populationen nicht zu stören. Auch hier kann ich am Ort des Naturraumes – vielleicht mit einem ergänzenden Besucherzentrum – Zugang gewähren, indem ich die Tiere virtuell in ihrem natürlichen Habitat zeige. So entsteht eine emotionale Verbindung und vor Ort eine Wertschöpfung. So kann in Schutzzonen der Nachfragedruck abgefedert werden und Schutzräume virtuell einer touristischen Nutzung zugänglich gemacht werden.


Was sind Ihrer Meinung nach Herausforderungen, die es bei der Integration von XR im Tourismus gibt?
Brysch: Der erste Punkt ist, dass sich die Leistungsträger in den Destinationen ernsthaft mit dieser Technologie auseinandersetzen müssen. Tourismus ist häufig von Kleinst-, Klein- und mittelständischen Anbietern geprägt. Da gibt es noch Wissensdefizite, aber auch andere Restriktionen, sodass diese kleinen Anbieter nicht den gleichen Zugang zu dieser Technologie haben. Das heißt, Aufklärung, Beratung und Unterstützung in den Destinationen ist ein ganz wichtiges Feld. 

Ein zweiter wichtiger Punkt ist, dass Kompensationseffekte eintreten können. Beispielsweise sind die Gen Z oder die Gen Alpha Menschen, die digital aufgewachsen sind. Sie „swipen“ durch ihre Feeds. Sie schauen sich vielleicht in 3D oder mit der VR-Brille irgendeine Destination an und stellen fest: „Haut mich jetzt nicht vom Hocker, will ich vielleicht gar nicht mehr hinfahren.“ Das kann sein. Das gab es aber auch früher schon, indem ich mir etwa Bilder oder einen Katalog angeschaut habe und festgestellt habe: „Aha, so sieht das da aus, ich habe mir etwas anderes vorgestellt.“ Das würde ich jetzt nicht dieser Technologie anlassen, aber diese Effekte wird es geben. Je mehr ich schon in meiner Entscheidungsphase über eine Destination weiß, desto stärker beeinflusst das auch meine finale Entscheidung, dorthin zu reisen.

Je mehr ich schon in meiner Entscheidungsphase über eine Destination weiß, desto stärker beeinflusst das auch meine finale Entscheidung, dorthin zu reisen.

Prof. Armin Brysch

Ein dritter Aspekt, den ich hier auch offen ansprechen möchte: Natürlich wird bei digitalen Erlebnissen auch digitale Hardware genutzt. Und digitale Hardware verbraucht Energie. Insofern muss man fairerweise sagen, wenn man den Carbon Footprint einer realen Reise mit dem Footprint einer virtuellen Reise vergleicht, dann muss das Bestreben sein, dass hier Energie aus nachhaltigen Quellen – Green Energy – genutzt wird, um auch diese Effekte nachhaltig und umweltverträglich zu nutzen.

Glauben Sie, dass XR zu einem integralen Bestandteil der Reiseplanung und -erfahrung werden wird?
Brysch: Vielleicht sollte ich in diesem Kontext als Begriff die digitale Customer Journey nennen. Im Tourismus sprechen wir erstens von der Inspirationsphase, beginnend mit der ersten Idee, die ich über eine Destination habe, die ich vielleicht auf irgendeinem Social-Media-Kanal sehe. Zweitens kommt die Informationsphase – das heißt, ich informiere mich weiter über eine Webseite, ein klassisches Reisebüro oder in einer Diskussion mit Freunden. Die dritte Phase ist die Buchung einer Reise. Bis dahin gibt es ganz viele digitale Touchpoints. Und da werden Informationen und Stimuli über eine VR-Brille oder Augmented Reality Apps Ihren Platz haben. Als digitaler Touchpoint werden sie in der Vor-Reise-Phase dazu beitragen, Entscheidungen zu treffen, die letztlich zur Buchung der Reise führen.

Aber auch in der vierten Phase, der Reise selbst, werde ich zum Beispiel über Stadtführungen mit AR zunehmend Kontaktpunkte erleben, die aus der XR-Welt stammen. Die fünfte und letzte Phase in so einer Customer Journey ist die Nach-Reise-Phase. Wenn ich wieder zu Hause bin und meinen Freundinnen und Freunden erzähle, wie der Urlaub war, kann ich das physisch machen oder in einem virtuellen Raum, zum Beispiel am virtuellen Lagerfeuer. Wir nennen das in der Forschung Immersion, das Eintauchen in diese Situation. Immersive Erlebnisse haben heute bereits eine sehr hohe Qualität, insofern macht es Spaß, nicht nur physisch zu Hause, sondern auch virtuell von seinen Erlebnissen zu berichten.

Wie sehen Sie die Zukunft von XR im Tourismus? Welche Entwicklungen und Trends erwarten Sie in den kommenden Jahren?

Brysch: Erstens glaube ich, dass das Thema Social VR immer wichtiger wird. In Zukunft werden soziale Interaktionen in dieser virtuellen Welt, also zum Beispiel mit Freunden gemeinsam Abenteuer erleben, bedeutsamer. Das haben wir auch im Kontext der Diskussion um das Thema Metaverse in den letzten Jahren erlebt. Das Metaverse ist gekommen, um zu bleiben. Es wird immer größer und es werden auch immer mehr Menschen daran teilhaben können. Das heißt, es wird darauf ankommen, dass für bestehende Landschaften und Destinationen auch Digital Twins sowie künstliche Welten existieren, wo Menschen als Reisende und Besucher nicht nur einzeln, sondern in der Gruppe Aktivitäten erfahren. 

Das Metaverse ist gekommen, um zu bleiben. Es wird immer größer und es werden auch immer mehr Menschen daran teilhaben können.

Prof. Armin Brysch

Einen zweiten Trend sehe ich darin, dass wir perspektivisch in den nächsten zehn bis 20 Jahren Regionen sehen, die noch stärker von klimatischen Extremereignissen belastet werden. Regionen werden zu trocken sein oder sie sind durch Unsicherheiten und Kriege zum Reisen nicht mehr zugänglich. Auch in diesem Kontext kann Extended Reality punktuell oder regional fokussiert Reiseerlebnisse generieren, um die Destinationen nicht zu vergessen und dennoch einen Bezug zu ihnen aufzubauen. 

Und einen dritten Trend möchte ich nennen: XR oder auch Metaverse-Anwendungen im Tourismus können dazu beitragen, den Tourismus inklusiver zu machen. So können sich etwa Menschen mit Mobilitätseinschränkungen, wenn sie beispielsweise im Rollstuhl sitzen, durch diese Technologie Zugang zu Orten oder Landschaften schaffen. Ein Beispiel: Ich habe vor einigen Jahren ein Projekt begleitet, wo wir eine sehr enge Höhle mit virtuellen Erlebnissen angereichert haben. Wenn die Eltern oder Oma und Opa mit den Enkelkindern spazieren, besteht die Möglichkeit, eine enge Höhle zu begehen. Aber nicht jeder aus der Reisegruppe kann dort auch herunterklettern. Mit VR kann nun für die mobilitätseingeschränkten Personen am Ort des Geschehens ein Ersatzerlebnis virtuell kreiert werden. Nach dem – physischen oder virtuellen – Begehen der Höhle, gibt es dann trotzdem einen Raum für gemeinsame Diskussionen und das Teilen dieser Erlebnisse in der Gruppe. Insofern kann XR auch zum Thema „Reisen für alle“ einen wertvollen Beitrag leisten.

Mehr zum Thema

Wenn du mehr über das Zusammenspiel von Medien und Tourismus erfahren möchtest, melde dich gern kostenfrei zu unserer Konferenz MEDIA meets TOURISM am 07. Mai in München an! Prof. Armin Brysch wird in seinem Vortrag über die Bedeutung und Potenziale immersiver Erlebnisse im Tourismus sprechen.

MEDIA meets TOURISM vom MedienNetzwerk Bayern

Abonniere jetzt unseren Newsletter
Bleibe auf dem Laufenden zu den Events und Projekten des MedienNetzwerk Bayern!