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Human Algorithm

Von Magnus Gebauer

So verlockend das wachsende Content-Angebot auf vielen Streaming-Plattformen für User:innen ist, so überfordernd kann es auch sein. Allein auf Netflix stehen in Deutschland 4.711 Serien und Filme (Stand Oktober 2020) zur Auswahl. Wer saß da nicht schon selbst einmal im endlosen Fegefeuer der personalisierten Vorschlagskarussells fest oder hat einen Trailer-Marathon hingelegt, um letztlich wieder in den Comfort-Binge-Modus zu verfallen und eine Folge „Friends“ zu streamen?

Wer suchet, der findet lange nichts

Bereits 2019 hat das Marktforschungsunternehmen Nielsen herausgefunden, dass durchschnittliche US-Streamer:innen 7,4 Minuten benötigen, um sich für ein Programm zu entscheiden – und das, obwohl die ausgeklügelten Algorithmen der Plattformen immer besser auf unser Sehverhalten reagieren.

Wichtig zu wissen ist: Finden Streaming-Nutzer:innen keine passenden Inhalte beim Durchstöbern der Menüs, lassen 21 Prozent das Vorhaben, sich etwas anzusehen, bleiben.

Bewegung durch Algorithm Fatigue

So ganz können oder möchten sich User:innen auf die Maschinenempfehlungen wohl nicht verlassen. Auch wenn das Vertrauen in Algorithmen einer aktuellen Studie der Harvard Business School zufolge wächst, ist eine gewisse Ermüdung oder „Algorithm Fatigue“ in der digitalen Welt spürbar.

Und diese Ermüdung spiegelt sich auch bei uns in Zahlen wider, wie next.Media.Hamburg in einer Befragung im April 2020 herausfand: Nahezu jede:r zweite Nutzer:in (46 Prozent) bewertet die von Streaminganbietern automatisch generierten Film- und Serienvorschläge als unpassend, nur 19 Prozent sind mit den Anregungen der Maschinen zufrieden.

Dieser Trend führt zu neuen Entwicklungen im Bereich der Content-Vorschläge: Netflix, Großmeister der Vorschlagsalgorithmen, experimentiert mit Alternativen – und das ist ein Zeichen für Bewegung. Seit Juli testet Netflix Medienberichten zufolge in ausgewählten Märkten eine Shuffle-Funktion. Klickt man auf den Shuffle-Button, bekommt man zufällig ausgewählte Filme oder Serien zu sehen. Lediglich Nutzervorlieben für bestimmte Genres sollen im Shuffle-Modus berücksichtigt werden.

Mit dem „Human Algorithm“ neue Wege gehen

Einen völlig anderen und deutlich innovativeren Weg, um der „Algorithm Fatigue“ zu begegnen, gehen die Macher:innen der im August 2020 an den Start gegangenen App Bingie. Das kalifornische Startup bietet mit seiner App die Möglichkeit, Freund:innen Streaming-Content von unterschiedlichen Diensten zu empfehlen. Sie selbst sprechen dabei vom „Human Algorithm“ und setzen damit voll auf das Vertrauen, das man in Freund:innen und Familie hat. Die App soll dabei helfen, von den Algorithmen der Streamingdienste unabhängig zu werden, sich in der Masse des Content-Angebots zurechtzufinden und dazu anregen, mit der Community über Filme und Serien ins Gespräch zu kommen. So kreiert die Community eines jeden einzelnen die zukünftige Watchlist und soll dadurch die Vorschläge der künstlichen Intelligenz überflüssig machen.

Was bedeutet dies für Streaming-Anbieter und Mediatheken in Bayern?

Besonders interessant für Streamingdienste hierzulande ist es, auf das Potenzial der eigenen Streaming-Community zu setzen. Eigene Plattform-Features, die sich am „Human Algorithm“ orientieren und damit die Netzwerkeffekte der lokalen Streaming Community zu Nutze machen, können sowohl für die Anbieter selbst als auch für Nutzer:innen einen echten Mehrwert schaffen.

Der Ansatz des US-Startups Bingie bietet viele Anknüpfungspunkte, die auch auf den deutschen Markt übertragbar und derzeit nicht besetzt sind.

Mit Apps wie krittiq oder zappic gab es zwar auch in Deutschland schon Versuche, eigenständige soziale Netzwerke für Film- und Serienfans zu etablieren, bestehen konnten diese Startups allerdings nicht.

Vielversprechender ist der Ansatz des deutschen Startups Shelfd, das sich auf handverlesene, personalisierte Video-Empfehlungen für seine Nutzer:innen spezialisiert hat.

Streamingdienste wie Joyn setzen in Bezug auf Content-Empfehlungen derzeit hauptsächlich auf die Kuration durch Mitarbeiter:innen sowie zunehmend auch auf Algorithmen, wie Alexandar Vassilev, ehemaliger CEO und Geschäftsführer der John GmbH, im März 2020 im Medientage-Blog preisgab.

Für Streamingdienste und Mediatheken kann gerade jetzt, in Zeiten zunehmender „Algorithm Fatigue“, die Integration eines von der eigenen Community ausgehenden „Human Algorithm“ als ein innovativer Ansatz der Conntent Recommendation aufgegriffen werden.

Quellen & nützliche Links

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