
KI und Barrierefreiheit: Wie künstliche Intelligenz neue Zugänge schafft
von Chris Schinke, 5. Februar 2025
Der digitale Wandel hat in den vergangenen Jahren nicht nur die Art und Weise verändert, wie wir kommunizieren, konsumieren und arbeiten. Er hat auch neue Potenziale für mehr Teilhabe erschlossen. Gerade im Bereich Barrierefreiheit eröffnen sich durch künstliche Intelligenz (KI) Chancen: Automatisierte Untertitel, Sprachausgaben, Bildbeschreibungen, Übersetzungen in Leichte Sprache. All diese Entwicklungen ermöglichen es mehr Menschen, digitale Inhalte zu nutzen.
Zugleich lässt sich beobachten, dass barrierefreie Lösungen wie Leichte Sprache zunehmend im Mainstream Fuß fassen: Was einst als Nischenangebot für bestimmte Zielgruppen galt, wird immer häufiger von Behörden, Medienhäusern und Unternehmen sowie im Kulturbereich eingesetzt, um möglichst viele Menschen zu erreichen. Für Medienhäuser, Unternehmen und öffentliche Einrichtungen stellt sich nun die Frage: Wie lässt sich KI so einsetzen, dass eine möglichst große Gruppe von Nutzer:innen profitiert?
Das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz: Was sich ab 2025 ändert
Ein wichtiger Treiber hierfür dürfte das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (BFSG) sein, das ab dem 28. Juni 2025 für Produkte und Dienstleistungen in Kraft tritt. Ab diesem Stichtag gelten strenge Anforderungen hinsichtlich der Barrierefreiheit, die sich insbesondere auf digitale Angebote wie Websites, Apps oder Online-Shops auswirken. Betroffen sind Unternehmen, die im B2C-Bereich tätig sind, etwa Mobilitätsanbieter, E-Commerce-Plattformen und Telekommunikationsunternehmen.
Gerade für die Medienbranche und andere Akteure im Informations- und Dienstleistungssektor kann das BFSG weitreichende Konsequenzen haben.Es verpflichtet sie, bestimmte technische und inhaltliche Standards einzuhalten, damit Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt auf ihre Angebote zugreifen können. Hierzu zählen beispielsweise barrierefreie Navigationsstrukturen, angepasste Schriftgrößen, Screenreader-kompatible Inhalte – aber auch übersichtlich und verständlich formulierte Texte.
Während viele Behörden und öffentliche Institutionen bereits erste Schritte hin zu barrierefreien Angeboten unternommen haben (z. B. die Umsetzung der Web Content Accessibility Guidelines 2.1, WCAG 2.1-Richtlinien), steht die Privatwirtschaft noch am Anfang. Zahlreiche Firmen müssen sich nun intensiv damit auseinandersetzen, wie sie ihre Dienstleistungen, Produkte und Informationen zugänglicher machen, um ab 2025 konform zu sein.
Genau hier kommt KI ins Spiel: Sie kann helfen, Inhalte automatisiert für diverse Zielgruppen aufzubereiten, Fassungen in Leichter und Einfacher Sprache zu erstellen und so den Zugang für alle zu erweitern.
Leichte vs. Einfache Sprache: Wo liegt der Unterschied?
Leichte Sprache und Einfache Sprache sind zwei unterschiedliche Sprachvarianten, die darauf abzielen, Informationen für Menschen verständlicher zu machen, die Schwierigkeiten mit der Alltagssprache haben. Für Leichte Sprache gibt es verschiedene Regelwerke, für Einfache Sprache nicht.
Zahlen, Daten, Fakten: Warum digitale Barrierefreiheit immer wichtiger wird
Für wen Leichte Sprache gedacht ist
Laut Statistischem Bundesamt lebten Ende 2023 rund 7,9 Millionen schwerbehinderte Menschen in Deutschland. Hinzu kommen weitere Millionen Menschen mit nicht amtlich anerkannten, aber alltagsrelevanten Einschränkungen (z. B. Lernschwierigkeiten, Seh- und Hörbeeinträchtigungen). Zur Zielgruppe der Leichten Sprache gehören außerdem funktionale Analphabet:innen, Menschen mit geringen Deutschkenntnissen, Personen mit Demenz und alle, die aus anderen Gründen Schwierigkeiten beim Lesen haben. Der Bedarf an barrierefreien Lösungen – insbesondere im digitalen Raum – ist deshalb beachtlich.

Barrierefreiheit und Wirtschaft
Eine Studie der World Health Organization (WHO) schätzt, dass rund 16 Prozent der Weltbevölkerung eine Behinderung haben. Das ist etwa jeder sechste Mensch. Da viele Branchen ihre Dienstleistungen zunehmend digitalisieren, wächst das Risiko, einen relevanten Teil potenzieller Kund:innen zu verlieren, wenn Barrierefreiheit vernachlässigt wird. Unternehmen, die auf inklusives Design und KI-gestützte Barrierefreiheit setzen, können hingegen neue Zielgruppen erschließen und sich einen Wettbewerbsvorteil sichern.

Künstliche Intelligenz als Beschleuniger
KI-Tools haben sich seit 2022/23 mit dem Aufkommen generativer Modelle von Entwicklern wie OpenAI, Google (Alphabet), Meta Microsoft oder Anthropicrasant entwickelt. Viele Sprach- und Bildfunktionen sind heute leistungsfähiger und schneller verfügbar als je zuvor. Im Bereich Barrierefreiheit ist diese Beschleunigung besonders sichtbar – von automatisierten Screenreadern über Bildbeschreibungs-Tools bis hin zu Übersetzungen in Leichte Sprache. Doch insbesondere abseits der großen Sprachmodelle finden sich Ansätze von Anbietern, die Lösungen für Barrierefreiheit anbieten.
Praxisbeispiele: Wie KI Barrierefreiheit weltweit verbessert
Case 1: Microsofts KI-Tools für Barrierefreiheit
Microsoft investiert seit Jahren in Funktionen für Barrierefreiheit, die auf KI basieren. Beispielsweise erkennt das Programm Seeing AI Objekte, Personen und Text in der Umgebung des Kamerabildes eines Smartphones und wandelt sie in Echtzeitausgaben um. Blinde oder sehbehinderte Menschen können so ihre Umgebung eigenständig „lesen“. Die Software wurde stetig weiterentwickelt und integriert heute auch Szenenbeschreibungen und Gesichtserkennungsfunktionen. Microsoft arbeitet zudem am Ausbau von Übersetzungs- und Untertiteltechnologien, etwa in Teams und PowerPoint, um Unternehmenskommunikation barrierefreier zu gestalten.
Case 2: Netflix und die automatisierte Audiodeskription
Im Streaming-Bereich hat sich Netflix mit automatisierter Audiodeskription hervorgetan. Zwar werden viele Hörfassungen weiterhin von Menschen erstellt, doch in Tests wird bereits KI-Technologie eingesetzt, um erste Vorlagen für Deskriptionen zu generieren. Sprecher:innen prüfen die KI-Entwürfe und überarbeiten sie. Durch diesen hybriden Ansatz können mehr Inhalte in kürzerer Zeit mit Audiodeskription versehen werden – ein entscheidender Fortschritt für Menschen mit Sehbehinderung, die ohne Hörfassungen von vielen Filmen und Serien ausgeschlossen wären.
Case 3: BBC und das „Diversity & Inclusion“-Programm
Die BBC hat in ihrem „Diversity and Inclusion Plan 2020-23“ verschiedene Maßnahmen verankert, um Inhalte und interne Prozesse möglichst inklusiv zu gestalten. Mithilfe KI-gestützter Tools wie automatisierten Untertiteln für Live-Sendungen, Audiodeskriptionen und Gebärdenspracheinblendungen will die BBC ein barrierefreies Medienangebot für verschiedene Zielgruppen schaffen. Gleichzeitig entwickeln interne Diversity-Lösungen Feedback-Mechanismen, die die Bedürfnisse von Sehbeeinträchtigten oder Menschen mit Lernschwierigkeiten frühzeitig berücksichtigen. Dadurch positioniert sich die BBC als Vorreiter für den konsequenten Ausbau barrierefreier Inhalte im internationalen Mediensektor.
Case 4: Summ AI – Automatisierte Leichte Sprache mit KI
Das Münchner Unternehmen Summ AI hat sich auf KI-gestützte Übersetzungen spezialisiert – und hierbei vor allem auf Leichte und Einfache Sprache. Ihre Lösung berücksichtigt offizielle Regelwerke (wie DIN-Spezifikationen) und Normen, um Texte so umzuschreiben, dass sie für Menschen mit kognitiven Einschränkungen verständlicher werden. Eine aktuelle Neuerung ist die automatisierte Bebilderung solcher Texte, die vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales gefördert wird. Dadurch können wichtige Begriffe und Inhalte zusätzlich illustriert werden, was die Barrierefreiheit deutlich erhöht.
Gerade in jüngster Zeit habe das Thema dank der technischen Fortschritte bei generativen KI-Modellen einen Schub erfahren: „Die großen Sprachmodelle haben eine Tendenz dazu, etwas wegzulassen, mal auch etwas dazu zu halluzinieren. Und das soll bei einer reinen Vereinfachung, die inhaltlich deckungsgleich bleiben muss, natürlich nicht passieren,“ sagt Flora Geske, Mitgründerin von Summ AI. Das Unternehmen setze deshalb auf spezialisierte Datensätze und mehrstufige Verfahren, damit sich Inhalt und Kernbotschaft nicht ungewollt verändern.
Neben der rein technischen Seite betont Geske auch den gesellschaftlichen Wandel, der derzeit stattfindet. „Wir beobachten einen echten Aufwind. Immer mehr Organisationen rücken das Thema Inklusion ins Zentrum.“ Dass inzwischen selbst regionale Medienhäuser und Behörden verstärkt nach Leichter Sprache und barrierefreien Angeboten fragen, wertet Summ AI als Signal einer Normalisierung: Leichte Sprache wird nicht mehr als Sonderlösung, sondern als zentraler Bestandteil digitaler Kommunikation betrachtet.
Dass Summ AI Unternehmen und öffentliche Stellen unterstützt, hat mehrere Vorteile: Zum einen sinken durch die teilautomatisierten Übersetzungen die Kosten erheblich.um anderen gewinnen Projekte, die bisher als zu aufwendig galten, an Umsetzbarkeit. So profitieren nicht nur Menschen mit Lernschwierigkeiten oder kognitiven Beeinträchtigungen, sondern alle, die klar und verständlich geschriebene Informationen bevorzugen. Summ AI sieht sich dabei nicht als Ersatz für professionelle Übersetzer:innen, sondern als Tool, das Prozesse beschleunigt, mehr Textsorten abdeckt und den entscheidenden Anstoß für eine umfassende Barrierefreiheit geben kann.
Leichte Sprache kann die Zugänglichkeit deutlich erhöhen – man nennt das den Mehrwert für alle. Beim Bau von barrierefreien Gebäuden profitieren zum Beispiel nicht nur Menschen im Rollstuhl, sondern auch Personen mit Kinderwagen oder Rollkoffer. Ähnlich ist es mit gut verständlichen Texten.
Flora Geske, Summ AI
Was bedeutet der Trend für Bayern und die bayerische Medienbranche?
In Bayern beschäftigen sich zahlreiche hochschulnahe Entwicklungsprojekte und Startups mit KI und deren konkreten Anwendungsmöglichkeiten. Vor allem München hat sich mit unterschiedlichen Initiativen zum KI-Hotspot entwickelt. In anderen Regionen des Freistaats – etwa Nürnberg, Augsburg oder Würzburg – entstehen ebenfalls spannende Projekte, die barrierefreie Lösungen voranbringen.
- Medienhäuser: Ob Bayerischer Rundfunk (BR), Süddeutsche Zeitung (SZ) oder Augsburger Allgemeine: Zahlreiche bayerische Medienbetriebe arbeiten daran, ihre Angebote grundsätzlich zugänglicher zu gestalten. Untertitel bei News-Videos, barrierearme Apps oder Screenreader-freundliche Weblayouts sind wichtige Schritte, aber es bleibt noch Luft nach oben.
- Öffentlich-rechtlicher Rundfunk: Der BR hat als öffentlich-rechtliche Anstalt den Auftrag, möglichst vielen Menschen den Zugang zu Informationen zu ermöglichen. Bereits seit 2019 lernen dort alle Volontär:innen die Deutsche Gebärdensprache – ein Impuls, der vom Nachwuchs selbst ausging. Hintergrund: Die gehörlose Journalistin Iris Meinhardt war Teil des damaligen Jahrgangs, woraufhin sich ihre Kolleg:innen weiterbildeten. Dieses Potenzial einer inklusiven Medienausbildung könnte Bayern noch stärker als Innovationsmotor nutzen. Auch testet der BR in Kooperation mit anderen ARD-Anstalten KI-Anwendungen, etwa für Live-Untertitel oder Hörfassungen.
Chancen und Herausforderungen für bayerische Akteure
- Rechtzeitige Vorbereitung: Unternehmen sollten im Hinblick auf die Einführung des BFSG spätestens jetzt damit beginnen, ihre Inhalte auf Barrierefreiheit zu prüfen und – wo notwendig – anzupassen. KI-basierte Tools können dabei helfen, Zeit und Ressourcen zu sparen.
- Sensibilisierung der Öffentlichkeit: Barrierefreie Angebote kommen allen zugute. Dies stärker zu kommunizieren, erhöht den Druck auf Unternehmen und Institutionen, neue Lösungen rechtzeitig zu implementieren.
- Inklusives Design als Innovationsmotor: Was ursprünglich nur für bestimmte Zielgruppen entwickelt wurde, bringt Vorteile für alle Nutzenden. Das sieht auch Flora Geske von Summ AI so: „Leichte Sprache kann die Zugänglichkeit deutlich erhöhen – man nennt das den Mehrwert für alle. Beim Bau von barrierefreien Gebäuden profitieren zum Beispiel nicht nur Menschen im Rollstuhl, sondern auch Personen mit Kinderwagen oder Rollkoffer. Ähnlich ist es mit gut verständlichen Texten.“
Warum Unternehmen jetzt auf KI-gestützte Barrierefreiheit setzen sollten
Das Thema „KI und Barrierefreiheit“ hat sich in wenigen Jahren von einem Nischenaspekt zur Schlüsselfrage entwickelt – für Behörden, Unternehmen und Medien gleichermaßen. In Bayern entstehen bereits spannende Kooperationen zwischen Startups, Medienhäusern und Hochschulen, die neue Lösungen vorantreiben. Angesichts des Stichtags 2025 für das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz drängt allerdings die Zeit: Wer nun nicht in KI-gestützte Barrierefreiheit investiert, könnte Chancen verpassen – sowohl wirtschaftlich als auch gesellschaftlich.
Quellen & nützliche Links
- BBC: Diversity & Inclusion Plan
- Bundesministerium des Innern und für Heimat: Barrierefreiheitsstärkungsgesetz
- Bundesministerium des Innern und für Heimat: Web Content Accessibility Guidelines
- Bundesministerium für Arbeit und Soziales: Barrierefreiheitsstärkungsgesetz
- Duden: Leichte Sprache
- IHK München und Oberbayern: Barrierefreiheitsstärkungsgesetz: Digitale Barrierefreiheit wird für Unternehmen Pflicht
- Inklusiv: Leichte Sprache vs. Einfache Sprache
- MedienNetzwerk Bayern: Netzwerkwissen Leichte Sprache
- Medium Magazin: Journalistischer Nachwuchs des BR lernt Gebärdensprache
- Seeing AI
- Statistisches Bundesamt: Menschen mit Behinderung
- SUMM AI
- The Verge: Netflix Audio Description
- WHO: World Report on Disability