Kriegsberichterstattung auf TikTok und Co.: Wie Redaktionen die Plattform nutzen können
von Benedikt Frank
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj meldet sich per Kurzvideo auf Twitter und Facebook zu Wort. Flüchtende berichten über ihre Situation auf TikTok. Kriegsbilder, teils real, teils propagandistische Fälschungen, verbreiten sich in einem neuen Ausmaß und rasend schnell in den sozialen Medien. Man spricht bereits vom ersten „TikTok-Krieg” – was die neuen Dynamiken auch für Redaktionen bedeuten.
In der Nacht nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine wendete sich Wolodymyr Selenskyj am 25. Februar in einem rund 30-sekündigen Facebook-Video an die Bevölkerung seines Landes. Im olivgrünen Armeeoutfit hielt er selbst die Kamera, hinter ihm waren Mitglieder seiner Regierung und der Präsidentensitz in Kiew zu sehen. Die Botschaft: Wir sind hier in Kiew und verteidigen die Ukraine. Sie war auch dazu gedacht, Gerüchten entgegenzutreten, der Präsident sei bereits aus dem Land geflohen. In den folgenden Wochen wandte sich der Präsident immer wieder auf ähnliche Weise direkt an die Weltöffentlichkeit. Als Beweis dafür, dass er noch lebt und vor Ort ist, um den russischen Angriff zu verurteilen oder um die Unterstützung anderer Länder einzufordern.
Der Ukraine-Krieg hat jedoch nicht nur eine neue Form der politischen Krisen-Kommunikation hervorgebracht, mit dem Medienmacher:innen umgehen müssen. Er liefert auch täglich zahlreiche neue Bilder mitten aus dem Kriegsgebiet, die oft von bisher unbekannten Menschen in sozialen Medien hochgeladen werden. Bereits in den ersten Kriegstagen gab es mit „Russisches Kriegsschiff, fick dich!”, dem Funkspruch eines ukrainischen Grenzsoldaten, ein erstes Meme aus dem Krieg, das sich online rasend verbreitete. Mittlerweile hat es das Meme bis zum offiziellen ukrainischen Briefmarkenmotiv geschafft hat. Ob es diese Begegnung auf der nur rund 17 Hektar großen Schlangeninsel im Schwarzen Meer ohne die sozialen Medien so schnell zu solcher Berühmtheit gebracht hätte, ist fraglich. Und das ist nur ein Beispiel von vielen, das belegt, wie sich Nachrichten aus dem Krieg heute über Social Media verbreiten.
Warum ausgerechnet TikTok-Krieg?
Natürlich landen Bilder und Nachrichten zum Ukrainekrieg auch über Facebook, Twitter, WhatsApp oder Telegram bei den Nutzer:innen. Doch das chinesische Videoportal TikTok spielt aufgrund seines Algorithmus eine besondere Rolle. Denn auf TikTok benötigen die Macher:innen keine große Gefolgschaft, damit ihre Videos von vielen gesehen werden. Auch Material von völlig unbekannten User:innen kann sehr schnell eine beträchtliche Reichweite erlangen.
So etwa bei der ukrainische Fotografin Valeriia Shashenok. Zu dem italienischen Tarantella „Che la luna”, bekannt aus dem Film „Der Pate”, zeigen sonst eher wohlhabende Jugendliche auf TikTok Szenen aus ihrem Leben in Frieden. Sie filmte auf ihrem Account @valerisssh dahingegen ihren „Typischen Tag im Luftschutzbunker“ – inklusive Bildern von zerstörten Häusern. Ironisch ist das nur rund 20-sekündige Video mit „Living my best life 🥰🥰🥰 Thanks Russia!” unterschrieben. Mittlerweile haben es knapp 50 Millionen Menschen weltweit gesehen. Die 20-Jährige, deren frühere Videos meist nur einige tausend Aufrufe haben, wurde so über Nacht international bekannt. Regelmäßig berichtete sie danach aus dem Kriegsalltag in ihrer Stadt Tschernihiw und von ihrer Flucht nach Italien.
Und sie ist bei weitem nicht die Einzige, die TikTok für Videos aus dem Krieg oder über diesen nutzt. Unter dem Hashtag #ukraine findet man eine wilde Mischung: Tanzende Jugendliche mit ironischen Botschaften, posierende und tanzende Soldaten, Bilder von zerbombten Städten und Panzern, Witze über Putin, Solidaritätsbekundungen und patriotische Ansprachen und dazwischen auch immer wieder nachrichtliche Videos von großen weltweiten Medienmarken. Innerhalb weniger Tage wurden Videos mit dem Hashtag #ukraine etwa 22 Milliarden Mal gesehen, schreibt der Tagesschau Faktenfinder. Laut New York Times finde sich auf TikTok deutlich mehr Kriegs-Content als auf anderen Social-Media-Plattformen – darunter auch viel Propaganda und Falschinformationen.
Wieso sich die Präsenz auf TikTok lohnt
Sich mit Social Media und insbesondere TikTok zu beschäftigen, ist auch unabhängig vom Ukraine-Krieg sinnvoll. Die Plattform ist insbesondere wegen ihrer Reichweite bei der jüngsten Zielgruppe interessant. Laut der aktuellen ARD/ZDF-Onlinestudie ist TikTok mit 19 Prozent täglichen Nutzer:innen in der Altersgruppe der 14- bis 29-Jährigen die drittbeliebteste Plattform hinter Instagram und Snapchat bei jungen Menschen in Deutschland. Außerdem wächst die Nutzerschaft von TikTok deutlich, während die anderer sozialer Plattformen nur noch langsam zunimmt oder stagniert. Laut dem Digital Report der Social-Media-Management-Plattform Hootsuite und der Kreativagentur „We are social“ ist zudem die monatliche Nutzungsdauer von TikTok in Deutschland mit 23,6 Stunden mehr als doppelt so lange wie die anderer Social Media Apps.
Die Jugend konsumiert die vertikalen Kurzvideos auf TikTok also häufig und lange. Da sie dort immer stärker mit Kriegsbildern in Kontakt kommt, muss auch die Einordnung dieser Bilder auf eben dieser Plattform geschehen. Wenn etwa eine traditionelle Zeitung den Ukrainekrieg für 16-Jährige auf TikTok erklärt, erreicht sie damit potenzielle Leser:innen von morgen, die der Printausgabe in der Regel noch keine Aufmerksamkeit schenken.
So können Medien TikTok zur Berichterstattung im Ukraine-Krieg nutzen
Wie Nachrichten zum Ukrainekrieg auf TikTok aussehen können, macht zum Beispiel Tim Hendrik Walter vor. Unter dem Namen „Herr Anwalt“ fasst er in aller Kürze, in der Regel unter einer Minute, auch aktuelle Geschehnisse in der Ukraine zusammen. Etwas länger darf es beim Bayerischen Rundfunk sein. In etwa zwei Minuten geht auf dem Account von BR24 etwa Dominic Possoch der Frage „Erklärt uns Putin den Krieg?” nach. Eine Mehrfachverwertung: Die ausführliche 13-minütige Version des Formats „Possoch erklärt” gibt es auf Youtube. Dass auch Lokalzeitungen bei TikTok aktiv Nachrichten machen können, beweist die Augsburger Allgemeine – wenngleich der Krieg bisher noch nicht zu ihren TikTok-Themen gehört. Manuel Andre und Jonathan Lindenmaier posten dort Interviews mit Politiker Hubert Aiwanger oder erklären den Maibaum für eine lokale Zielgruppe.
Chancen für die Medienbranche in Bayern
Redaktionen können TikTok nicht nur als weiteren Kanal für ihre Inhalte, sondern auch als Quelle für die eigene Berichterstattung nutzen. Weil auf der Plattform zudem viele Falschmeldungen, aus dem Zusammenhang gerissene Videos und Inhalte mit propagandistischen Inhalten kursieren, können Medien hier ihrer gesellschaftlichen Verantwortung gerecht werden und diese überprüfen. Denn am effektivsten ist Fact-Checking, wenn es Fake News gleich auf der Plattform enttarnt, auf der diese ursprünglich verbreitet wurden. Zwar werden insbesondere kleinere und lokale Redaktionen kaum selbst die Mittel haben, um mit Reporter:innen in der Ukraine die Wahrheit zu recherchieren. Doch auch Spezialist:innen wie etwa die Redaktion des BR Faktenfuchs, die virale Fake-Storys professionell widerlegen, die teilweise über TikTok verbreitet werden, arbeiten oft aus der Ferne. Hilfreich ist dabei auch OSINT, Open Source Intelligence, also Recherche, die mithilfe von öffentlich zugänglichen Quellen und unzähligen Freiwilligen, die sich mittels sozialer Medien koordinieren, bestimmte Bilder und Behauptungen verifiziert.
Und nicht zuletzt können TikTok und Co. auch eine Fundgrube für Geschichten mit Lokalbezug sein. Dort finden sich Ukrainer:innen, die aus bayerischen Partnerstädten vom Krieg berichten, die ihre Flucht ins regionale Sendegebiet auf TikTok dokumentieren oder die filmen, was eine lokale Spendenaktion bei ihnen bewirkt. So lassen sich nicht nur Bilder für die eigene Berichterstattung, sondern auch interessante Protagonist:innen vor Ort ausfindig machen.
Zahlen & Studien
Quellen & nützliche Links
- Bellingcat.com: Investigate TikTok like a Pro
- DPA Factchecking: Aufnahmen zeigen Selenskyj in Kiew – Kein Beleg für Flucht aus der Ukraine
- Journalist: Im Desinformationskrieg
- nd: Krieg, live in sozialen Medien
- New York Times: TikTok Is Gripped by the Violence and Misinformation of Ukraine War
- Tagesschau.de: Brutale Kriegsbilder statt lustiger Videos
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